Kommentar: RIM bekommt die Kurve (nicht)

Patrick Bellmer
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Kommentar: RIM bekommt die Kurve (nicht)
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Der Anfang vom Ende?

Am Ende glichen sich die Schlagzeilen immer mehr. Selten war zuletzt von etwas anderem als von sinkenden Marktanteilen, rückläufigen Umsätzen, Stellenstreichungen im vierstelligen Bereich, einbrechenden Gewinnen und mehrfachen Verschiebungen die Rede. Vorbei die Zeiten, in denen Research in Motion (RIM) mit neuen Geräten und Diensten für positive Meldungen sorgen konnte. Deshalb war es wenig verwunderlich, dass offen über die Zukunft der beiden Vorstandsvorsitzenden diskutiert wurde. Der Rücktritt von Mike Lazaridis und Jim Balsillie soll dem kanadischen Unternehmen nun endlich die Ruhe verschaffen, die man angesichts der großen Probleme dringend benötigt. Doch die Frage lautet: Kann RIM unter dem neuen CEO Thorsten Heins die Kurve bekommen, oder ist der Wechsel an der Spitze lediglich der Anfang vom Ende?

Für die Beantwortung muss man sich zunächst vor Augen halten, welchen Stellenwert RIM bis vor einiger Zeit hatte und wo das Unternehmen heute steht. Als RIM 1999 den ersten BlackBerry auf den Markt brachte, hießen die Konkurrenten S60 (Nokia) und Windows Mobile (Microsoft). Beides Plattformen, die sich wie BlackBerry OS in erster Linie an Geschäftskunden richteten, auch wenn es durchaus Möglichkeiten zur Unterhaltung gab. Das Besondere an der RIM-Lösung war jedoch die enge Verzahnung mit speziellen Diensten, die beispielsweise eine sichere Kommunikation oder schnelleres Surfen im Internet ermöglichten. Dadurch erwarb sich RIM in Geschäftskreisen schnell den Ruf eines zuverlässigen Begleiters, war der Hersteller den Mitbewerben in diesen Punkten doch deutlich überlegen.

Über mehrere Jahre hinweg konnte RIM die eigene Software sowie die Modellpalette pflegen und ausbauen und somit mehr und mehr Kunden gewinnen, nach wie vor mit einem eher geringen Anteil bei rein privaten Nutzern. Spätestens mit dem Erfolg des ersten und zweiten iPhones in den Jahren 2007 und 2008 sowie dem einsetzenden Siegeszug von Android 2009 und 2010 begann sich das Blatt aber allmählich, wenn auch zuerst kaum bemerkt, zu wenden. Nach wie vor setzte RIM Millionen Geräte pro Quartal ab, durch das steigende Interesse der Allgemeinheit an Smartphones gerieten die Multimediafähigkeiten aber immer mehr in den Fokus. Der Ruf nach besseren Kameras, Apps und anderen Dingen wurde immer lauter, die Kanadier wollten oder konnten diesen aber nicht erhören.

Gleichzeitig erkannten die Mitbewerber jedoch allmählich, dass man durch die Implementierung von Funktionen eher beruflicher Natur wie beispielsweise Microsoft Exchange oder der Einrichtung von VPNs neue Kundenkreise erschließen könne. So wurde gerade Apples iPhone in Unternehmen immer beliebter, spätestens seit dem letzten Jahr gilt dies auch für Android. Bei RIM jedoch benötigte man für viele Schritte zu lange. Erst 2009 lieferte RIM mit der App World einen zentralen Marktplatz für Software, einen eigenen Musikdienst gibt es hingegen erst seit wenigen Wochen. Doch gerade was den Content, der so wichtig für ein Ökosystem ist, angeht, haben die dreieinhalb großen Gegner Apple, Google und Microsoft/Nokia die Nase vorne. Sie bieten den Nutzern ihrer Geräte zigtausende von Programmen sowie Millionen von Songs, Filmen und Serien, die man bequem vom Handy aus herunterladen kann.

Wie wichtig eben dieses Ökosystem ist, hat zuletzt Nokias Vorstandsvorsitzender Stephen Elop vor fast genau einem Jahr offen eingeräumt, als er von einem Krieg der Ökosysteme sprach. Nicht die Geräte entscheiden am Ende, sondern Umfang und Qualität des Contents, den man bereitstellen kann. Auf diesen Zug ist Research in Motion vermutlich zu spät aufgesprungen, der Markt ist mittlerweile fest in der Hand von Apple/iOS und Google/Android. Selbst ein Schwergewicht wie Microsoft hat es da schwer, sich einen nennenswerten Anteil vom Kuchen zu sichern. Deshalb muss die eingangs gestellte Frage eigentlich mit einer Gegenfrage beantwortet werden: Wie viel Zeit hat man in Kanada noch, um die Kurve zu bekommen?

Diese Antwort ist leicht: Nicht viel! Denn Android und iOS werden weiter wachsen, zuletzt lag der gemeinsame Anteil am gesamten Smartphone-Markt bei fast 68 Prozent. Ein Jahr zuvor waren es nur rund 41 Prozent. Im gleichen Zeitraum hat Research in Motion seinen Anteil jedoch von über 15 auf nur noch elf Prozent verringert. Es ist also an der Zeit, schnelle Lösungen zu präsentieren. Prinzipiell hat der Hersteller diese auch parat, aus den verschiedensten Gründen werden diese aber erst in einigen Monaten greifen können. Das längst überfällige Update auf BlackBerry OS 10, welches eine neue, moderne Basis nutzt, wird vermutlich erst im vierten Quartal 2012 zum Einsatz kommen. Neue Smartphones, die mehr Unterhaltungsmöglichkeiten bieten, werden ebenfalls erst in einiger Zeit auf den Markt kommen.

Dem neuen, aus Deutschland stammenden Chef Thorsten Heins läuft so also schon direkt beim Antritt seines neuen Postens die Zeit davon. Ob er dennoch den Hebel umlegen kann, wird sich schnell zeigen müssen. Die von ihm erneut angeregte Lizenzierung des eigenen Betriebssystems könnte ein Weg aus der Krise sein, kann man so immerhin die Basis für die eigenen, gewinnbringenden Zusatzdienste vergrößern und sich so mehr Luft für Forschung und Entwicklung verschaffen. Aber auch dann bleibt die Frage: Kann sich RIM gegen die beiden Platzhirsche behaupten? Und viel wichtiger: Hat RIM überhaupt noch eine Daseinsberechtigung? Denn Apple und Google haben inzwischen viel vom einstigen Vorreiter gelernt und verstehen sich auf die Verknüpfung von Hardware und Software, privatem und beruflichem Nutzen, Content und Usability. Was passiert, wenn man dies nicht beherrscht, zeigen die Beispiele Symbian und webOS. Es wird Zeit.

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